
ELIAS KLEIN ZEICHNUNGEN UND KURZGESCHICHTEN"
150 copies
30 drawings, 7 shortsories
2024
Shout out to Hildi , Vera, Fred, Robin, Mama



Leseprobe:
Küchenbrief
Ich wohnte jetzt schon über sechs Jahre in Berlin.
Innerlich hatte ich mit der Stadt schon abgeschlossen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich in eine wärmere und südlichere Gegend ziehen würde. Der Sommer war abrupt geendet und die kurzen, dunklen Herbsttage standen vor der Tür.
An diesem Nachmittag stieß ich die Tür meines Häuserblocks auf und vor mir bot sich der typische Wedding im Herbst Anblick: blätterlose Bäume, die aus Betonkübeln wuchsen, in denen sich aufgeweichter Müll und frische Hundekacke zu einem Brei vermischten und an jeder Ecke Sperrmüll: abgeknickte Wäscheständer, Waschmaschinen, Lattenroste...
Es windete mir ein kalter Nieselregen entgegen, der Himmel war dunkel und grau, und ich musste beim Fahrradfahren die Augen zusammenkneifen. Bei jeder Straßenüberquerung achtete ich darauf, nicht von einem fetten Benzer oder BMW umgefahren zu werden. Die Chabos brausten mit ihren Mietautos in einem Affenzahn durch die 30er-Zonen und wehe dem, der etwas dagegen auszusetzten hatte. Durch das offene Fenster wurden Morddrohungen und die wüstesten Beschimpfungen gegrölt.
"Willst du sterben Junge?" und "Ich ficke deine Mutter du Hurensohn!"
Ich hatte mich am Leopolplatz verabredet. Mein Weg führte über die Maxstraße an der neuen Shisha Solid einer Shishabar, vorbei. Die blauen Shisha Solid Filialien poppten überall im Kiez auf. Vor mancher Shishabar gab es sogar Metalldetektoren. Von innen schauten einem grimmig die krassesten Stiernnacken des Kiezes in die Augen. Sie schienen zu sagen: "hier drinnen hast du nichts verloren mein Söhnchen".
Alex hatte etwas Verspätung. Wir hatten uns auf der U-Bahnplattform der U9 verabredet, die Station mit den blauen und braunen Kachelwänden, weil ich mir ein paar U-Bahnzüge anschauen wollte. Nach einer Umfrage bei der Berliner Stadtbevölkerung hatte die BVG entschieden, mehr besprühte Züge fahren zu lassen, anstatt diese zum Putzen einzuziehen. So kam es, dass die Züge kunterbunt durch die Stadt fuhren, ein wahres Spektakel! Aus einem der U-Bahn-Waggons stieg ein dreiköpfiger Trupp Zivil-Kontrolleurinnen aus. Allesamt hatten kurz geschorene Haare mit Gel-Effekt, Ohrenspreizer, volltätowierte Vorderarme, Bauchtaschen und Logistikerhosen. An den Gürteln baumelten Lederhandschuhe und der BVG-Ausweis, der in einem Plastik-Kartenhalter steckte.
Der Trupp sprach allen Menschen Bahnhofsverbote aus, deren Absicht es nicht war, mit der U-Bahn zu fahren. Mehrere Bettler und Obdachlose mussten den Platz räumen. Ich beobachtete mit Spannung das Geschehen, denn ganz in meiner Nähe saß die Verrückte von der U9, eine völlig heruntergekommene Frau, die sich das aggressive Betteln zur Spezialität gemacht hatte. Sie wollte immer nur 20 Cent und schrie dabei die Fahrgäste an. Sie hatte immer viele Plastiktüten dabei und führte laute Selbstgespräche, bei denen sie andauernd fluchte. Ich wusste schon, dass es gleich zum Eklat kommen würde. Und tatsächlich, als der Kontrolleurinnen-Trupp auf unserer Höhe Halt machte, weigerte sich das U9-Gespenst, so hatte ich die Bettlerin getauft, zu gehen. Als zwei von den Kampf Kontrolleurinnen versuchten, sie zu packen, biss diese der einen in den Finger. Es gab einen lauten Aufschrei und das U9-Gespenst bekam eine fette Bombe ins Gesicht geschlagen. Die Aufregung unter den Fahrgästen war groß, die Polizei wurde verständigt. Es hatte sich eine Menschentraube um den Ort des Geschehens gebildet.
Ich ging und fuhr die Rolltreppe auf den Leopoldplatz hinauf und erblickte Alex, der vor dem Spätkauf sein Fahrrad anschloss. Alex war mein bester Freund, meine zweite Hälfte, hier in Berlin, wir hatten sogar einmal zusammengewohnt, aber das war nicht so gut gelaufen.
Alex hatte seine Ausbildung als Koch in verschiedenen Hotelgroßküchen gemacht und musste oftmals um vier Uhr morgens aufstehen, um pünktlich das Frühstücksbuffet für die Hotelgäste zuzubereiten. Ich hingegen schlief manchmal bis dreizehn Uhr, wenn ich am Vorabend in der Uni gesoffen hatte. Ich kam spät heim und Alex stand früh auf, so dass wir nur wenig Zeit zusammen in unserer WG verbrachten. Sein Verhalten und seine Lebenseinstellung gingen mir zunehmend auf die Nerven und Alex dachte genau dasselbe von mir. Wir entschieden dann, getrennte Wege zu gehen. Ich zog in den Wedding, Alex nach Zehlendorf. Ungefähr ein Jahr lang sprachen wir nicht mehr miteinander, bis wir uns wieder anfreundeten.
Am Spätkauf kamen Alex und ich ins Gespräch mit einer Gruppe Jugendlicher, die Capri-Sonne trinkend und Sonnenblumensamen essend auf den Treppen der Sparkasse saßen. Sie erklärten uns, sie wären eine Gang, alle aus Bulgarien, alle siebzehn Jahre alt. Der kleine bullige Typ aus der Gruppe siezte mich sogar:
"Wissen Sie, wir sind gegen Drogen und gegen Dealen... Wir haben einen Telegramm-Chat, wir sind über 50 Mitglieder und treffen uns jede Woche um Dealer zu verprügeln. Wir nehmen Ihnen ihre Drogen und ihr Geld weg, vom Kutschi bis S-Bahnhof Wedding sind wir aktiv. Schauen Sie hier, das ist mein Auto!"
Stolz zeigt mir der junge Bulgare ein Mercedes C- Klasse auf seinem Smartphone.
"Habe ich geleast! Ich fahre auf der Müllerstrasse um Chayas zu beeindrucken!"
"Hä? Du fährst mit siebzehn Jahren einen Mercedes C-Klasse? Wie geht das denn?" fragte ich erstaunt.
"Das Normal, alle hier machen so. Schauen Sie, wenn Sie das nächste Mal Müllerstraße sind, vielleicht sehen Sie mich!" er zwinkerte mir zu.
Wir verabschiedeten uns von den Jugendlichen und schlenderten Mate trinkend durch die Straßen.
"Du Yann, ich wollte dir etwas erzählen und dich um einen Gefallen bitten."
Alex hatte mir bei der Frage direkt in die Augen geschaut. Während des ganzen Spaziergangs hatte er etwas bedrückt gewirkt.
"Aha, ich wollte dir nämlich auch etwas Wichtiges mitteilen! Aber du zuerst, rück raus mit der Sprache!"
"Du weißt ja, dass ich seit einem Jahr als Koch in einem Altersheim arbeitete. Es ist so: ich halte das nicht länger aus dort. Claudia und Klaus, ich ertrage die einfach nicht mehr... Du weisst ja Yann, dass ich Mühe habe, die Rolle des Küchenchefs zu spielen und jetzt ist es sowieso zu spät. Gestern war mein letzter Arbeitstag dort und ich wollte nicht einfach so abhauen. Deshalb habe ich einen Brief an die Beiden geschrieben. Könntest du ihn dir bitte mal anschauen?"
Alex kramte in seiner Hosentasche und holte drei gefaltete Zettel heraus. Wir setzten uns auf eine Bank und ich las den Brief:
Hallo ihr 2,
Ich bin jetzt weg, und denke dass es Schade ist dass es so enden muss.
Claudia du warst von Anfang an frech und ungeduldig mir gegenüber, hast von mir erwartet dass alles sofort sitzt und im besten Fall alles so bleibt wie es immer war. Jedes Mal wo ich versucht habe mit dir zu kommunizieren oder zu quatschen warst du immer eiskalt oder hast sogar keine Antwort gegeben.
Deine Arbeit ist nicht so stressig und anstregend dass man so mit seinen Kollegen umgeht und gar nicht zum eigenen Chef.
Klaus, ich hatte mich am Anfang gefreut dich als Kollegen zu haben, deine gute Laune und kommunikative Art zu reden fand ich super, bis du mit der Zeit dein wahres Gesicht gezeigt hast. Ich hab dich nie beschimpft oder beleidigt, du aber ordentlich: von wegen ich habe keine Ahnung weil ich kein Fleisch oder Fisch esse. Wie billig von dir Klaus, mit über 60 Jahren solltest du mit deiner Erfahrung darüber stehen und wie ein erfahrener Koch und Kollege kommunizieren können, alleine das, und dass du mich noch als Penner beschimpfst zeigt wie wenig Argumente und wie schwach du mit der ganzen Situation umgehst. Ich denke dass du innerlich frustriert bist und sehr unzufrieden mit deiner aktuellen Situation bist, und dass du deswegen dich so daneben benommen hast und auch so oft krank warst.
Jedes Mal wo wir Beide alleine sind Klaus, redest du irgendetwas über Claudia, ein Mal ist Sie sogar aufgetaucht und auf einmal warst du zu der ganz nett. Das war auch so ein Ding mit dir Klaus, du machst den Leuten viele Vorwürfe, kriegst es aber selber nicht hin ordentlich zu arbeiten.
Als Letztes wollte ich euch bezüglich eurer Arbeitsmethoden noch was sagen. Voraus-Arbeiten ist gut, man weiß ja nie ob alles nach Plan verläuft, damit kann man manch unangenehme Situation verhindern. Aber all diese Sachen wie Kartoffeln für Kartoffelsalat 3 Tage im Voraus schon kochen, die Entenbrust 2 Tage im voraus anbraten, 30 Kg Kartoffeln für die ganze Woche schon schälen und die dann 5-6 Tage im Wasser stehen lassen. Die Abendsuppe kann man auch jeden Tag frisch zubereiten, das Fleisch zum Sonntag schon am Samstag zu garen macht keinen Sinn.
Würdet ihr euch anders organisieren könnte man viel frischer kochen, ihr macht es euch immer zu einfach und man schmeckt es. Fisch und Fleisch lässt man nicht über Nacht auf Zimmertemperatur auftauen, dass hätte ich euch gleich am Anfang sagen sollen, das sind alles Grundlagen !
Zum Glück wird hier in der Küche nicht ausgebildet, da vergeht schon die Lust am Kochen wenn man mit euch arbeiten muss, und es gibt schon genug Köche wie ihr.
Ich bin nicht perfekt, weit davon entfernt, ich gebe mit aber Mühe und kann mich verbessern, bei euch ist es schon zu spät.
Seid dankbar einen Job zu haben und gesund & mit Familie in der Nähe zu leben , ich hoffe dass mein Nachfolger es schafft wo ich gescheitert bin und dass er es schafft mit euch umzukommen, ich wünsche euch trotzdem alles Gute für die Zukunft, und wenn ihr es nicht für euch macht, dann gibt euch für die Bewohner Mühe.
Alex
Ich fand Alex Initiative einen abschließenden Brief zu schreiben eigentlich richtig gut. Der Brief war krass, aber ich wollte ihm das nicht ausreden, ich wusste, dass er gelitten hatte. Wir liefen wieder durch die Straßen, es nieselte noch immer.
Ich wollte Alex aufheitern: "Alter ich habe gar nicht gewusst, dass die Stimmung im Altersheim so schlimm war. Jetzt wo du den Brief geschrieben hast, kannst du ja mit der Sache abschließen."
"Ich hätte halt gleich am Anfang offen und ehrlich mit Claudia und Klaus kommunizieren sollen. Aber offene Konfrontationen mag ich nicht, ich werde dann ganz rot im Gesicht und finde nicht die richtigen Worte."
Alex schaute bedröppelt auf den Boden und kickte mit seinem Fuß in eine leere Packung Kippen.
"Waren denn zumindest die Rentner mit dem Essen zufrieden?" fragte ich.
"Alter, das war auch so ein Ding. Ich habe versucht, ein paar vegetarische Gerichte mit in das Menü einzubauen. Zuerst haben Claudia und Klaus gemeckert, die ihr ganzes Leben nichts Anderes als Königsberger Klopse zubereitet haben und dann haben sich die Rentner über den asiatischen touch in meinen Rezepten beschwert. Die wollen eh nur das essen, was Sie ihr ganzes Leben schon gegessen haben..."
"Ja, vielleicht ist es jetzt auch ganz gut, dass du da raus bist Alex. Komm wir holen uns noch ein Bier im Späti, geht auf mich Bruder!"
Auf der Höhe des U-Bahnhofs Seestraße fielen uns wieder die vielen Alkis, Drogis und Obdachlosen auf. So viel menschliches Elend. Wo war die Liebe? Wo war der Reichtum Deutschlands? Lebten wir nicht in einem der reichsten Länder der Welt?
Ich hatte in meiner Zeit in Berlin so viel Elend gesehen. Arbeitende Menschen wurden einfach verbrannt, wie ein Stück Kohle, das im Ofen verheizt wird, damit unsere Gesellschaft funktionieren kann. Es gab sie einfach, die Verlierer unseres Systems, die einzig und alleine dazu da waren, dieses Konstrukt am Laufen zu halten. Tausende Menschen, die für einen Hungerlohn arbeiteten, die noch nie für sich selber entscheiden konnten, für die einzig und allein das Überleben zählte. Die Stimmung war am Boden.
"Weißt du was wir machen könnten? Ich glaube ich habe eine Idee, wie wir mit der Stadt Frieden schließen können!
Alex war sofort von meinem Vorschlag begeistert und wir fuhren sogleich zusammen in Richtung Grunewald. Wir machten einen kurzen Stopp beim Lidl und dann fuhren wir mit einem gemieteten Auto zum Altersheim. Gegen zwanzig Uhr trafen wir ein. Das Gebäude war eine riesige Stadtvilla, die umfunktioniert worden war. Im Keller befand sich die Küche, die um diese Uhrzeit menschenleer war. Wir machten uns direkt an die Arbeit. Unter Alex Anweisungen bereiteten wir in zwei riesigen Kesseln Unmengen an Milchreis zu. In dieser Küche galten ganz andere Maßstäbe. Noch nie hatte ich einen so großen Rührstab, oder eine so große Kelle gesehen wie hier. In dieser Küche war Platz. Zuerst kochten wir die Milch auf und fügten Vanille und Zucker hinzu. Dann gaben wir den Reis dazu. Ich musste bestimmt eine Stunde lang mit einem riesigen Quirl rühren. Der Milchreis durfte bloß nicht anbrennen! Wir verteilten den warmen Milchreis als einzelne Portionen in Pappschalen, die wir mit Alufolie abdichteten. Dann mussten wir die riesigen Kessel säubern, eine richtige Qual. Kurz bevor wir die Küche verließen, legte Alex den Brief auf die Küchenablage. Das war sein Abgang.
Es war bestimmt schon zweiundzwanzig Uhr, als wir mit allem fertig waren. Draußen war es dunkel und kalt.
Wir beluden den Kofferraum des Wagens mit den Milchreisportionen und fuhren durch die kalte und nasse Nacht. Die Lichter der Ampeln und Straßenlaternen spiegelten sich in den Pfützen wieder, die Straße leuchtete.
Wir fuhren zuerst zum S-Bahnhof Charlottenburg, ein Hotspot des Elends. Unter der Bahnhofsbrücke lagen der ganzen Länge nach Matratzen am Boden, auf denen Menschen wohnten, die in Schlafsäcken und Decken eingewickelt waren. Wir parkten den Wagen in zweiter Reihe und holten die warmen Milchreisportionen aus dem Kofferraum. Der Reihe nach liefen wir die Matratzen ab und fragten die obdachlosen Menschen, ob sie eine warme Mahlzeit wollten. Bei den Schlafenden legten wie die Milchreisportion einfach neben die Matratze. Einige bedankten sich, andere rissen die Mahlzeit einfach an sich und beachteten uns nicht weiter. Nicht wenige hatten einfach auch keinen Bock auf Milchreis und winkten ab.
Wir fuhren weiter zum Bahnhof Zoo, zum S-Bahnhof Tiergarten, zum Ostbahnhof und zur Warschauer Straße. Auch dort schliefen die Menschen auf Matratzen unter Brücken und wir verteilten unseren Milchreis. Am Ende unserer Tour hatten wir bestimmt sechzig Portionen Milchreis verteilt.
Der Kofferraum war leer. Wir fuhren zurück Richtung Wedding. Alex saß am Steuer des Wagens. Wir waren müde und zufrieden.
Booba-Saddam Hauts de Seine
"Du Alex, ich wollte dir ja vorhin etwas sagen."
Ich legte eine kleine Pause ein, und suchte nach den richtigen Worten.
"Also es ist so, ich werde diesen Winter Berlin verlassen. Ich ziehe nach Basel. Ich habe mir das gut überlegt, es ist die richtige Entscheidung."
Er wirkte nicht überrascht.
Wir fuhren weiter durch die Nacht, die Wagenreifen spritzen das Regenwasser hoch in die Luft, um uns die tausenden Lichter der Großstadt. Berlin du Schicksalsstadt, du Monster.




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